Gelesen:

J. Rückert, Abwägung - die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, in der Juristenzeitung 19 (2011), 913 – 923.

Rückert untersucht in für ihn typischer Weise – also: materialreich, detailgenau, bohrend, fast erschöpfend und jedenfalls den Leser nicht schonend – die Geschichte der „Abwägung“, die wie fast alle Begriffe „unjuristisch“ geboren, längst in die Fachsprache integriert, zum Rechtsbegriff geworden ist.

Zwei Gesichtspunkte entnimmt er seinem Material: Die „Abwägung“ sei „von der Methodenausnahme zur Methodenregel“ geworden und sie sei aus ihrem „unproblematischen Ort in den altüberkommenen und normativ freien, nichtjuristischen, politischen, auch moralischen und philosophischen Diskussionen“ hinüber gewandert in die Begründungsstrategien der Juristen.

 

 

Was Rückert für problematisch hält. Denn die „Abwägung“ hat den Teufel im Leib, weil sie das Rechtsideal (seit der Antike!) der „Normenstrenge“ aufzulösen droht. Mit „Normenstrenge“ meint Rückert „die Bemühung um Subsumtion mit Verständnis der Interessenlagen, mit Konkretisierung der Rechtsbegriffe aus dem Vergleich der sicheren und weniger sicheren Fallgruppen und echter Abwägung erst sekundär und hilfsweise bei den so genannten Lücken.“ Nicht jede Abwägung ist also vom Übel. Die „echte“ Abwägung im Rahmen des klassischen Rechtsanwendungsmodells bei der Bewältigung der Gesetzeslücke ist unproblematisch und nützlich. Problematisch ist „das allgemeine Abwägen“, die „offene Abwägung“, die – horribile dictu – ( rechts)politische Abwägung , wie sie uns allen aus dem öffentlichen Recht bekannt ist, das es naturgemäß mit der „Normenstrenge“ schon wegen der Sprachfassung (vgl. nur die Grundrechte!) nie so genau nehmen konnte wie das Rechtsanwendungsmodell mit seinen Lücken es sich wünschen mag.

Jetzt ist die „Abwägung“ auch im Zivilrecht angekommen, so daß sich schon die Frage stellt, ob man“ das Abwägen verwerfen“ soll „als eine Methode, die gerade eine gewisse Dauerhaftigkeit und Festigkeit der rechtlichen Regeln nicht bewahrt und darüber auch noch täuscht?“

Dazu wird es sicher nicht kommen, aber ein entsprechender Beschluss wäre auch ziemlich töricht. Denn was die „historisch-kritische Analyse“ Rückerts nicht zeigt oder zeigen will, ist der Grund für den Siegeszug der Abwägung, die hier so erscheint als habe sie die „Normenstrenge“ (bösartig oder fahrlässig) zersetzt, während sie in Wahrheit eine Reaktion auf den Zerfall der „Normenstrenge“ darstellt. Sie ist methodische Folge, nicht (grandios geisteswissenschaftlich überschätzte) Ursache. Eben weil der Juristentraum von der „Normenstrenge“ sich als Illusion erwiesen hat, weil die „Arbitrarität der Sprache“ (Christensen/Lerch) die Illusion von der Ableitbarkeit der Entscheidung aus dem Gesetz endgültig zerstört hat, hat die Abwägung ständig zugenommen, die ja nicht zufällig als „echte“ ausgerechnet bei der „Lücke“ aufgetaucht ist. Heute, wo nur noch wenige sich der Einsicht verweigern, daß die Gesetzbücher nichts anderes sind als Ansammlungen von „Lücken“, muss man die Abwägung (als Folge, nicht als Ursache) preisen, denn, so Rückert zutreffend, sie „suggeriert … eine Sicherheit und Festigkeit des Verfahrens, die in Wahrheit nicht vorliegt“ (gemeint: „vorliegen“) und sichert damit den Fortbestand des Subsumtionsmodells, ohne das es einstweilen (bis zur Umstellung auf ein entsprechend legitimiertes Argumentationsmodell) nicht geht.

[ds]